Montag, 30. Mai 2016

Suchbild. Über meinen Vater

von Christoph Meckel

Im erwachsenen Menschen steckt ein Kind, das will spielen. Es steckt in ihm ein Befehlshaber, der will strafen. In meinem erwachsenen Vater steckte ein Kind, das mit den Kindern Himmel auf Erden spielte. Es lebte in ihm eine Sorte Offizier. die bestrafen wollte im Namen der Disziplin. Nutzlose Affenliebe des glücklichen Vaters. Hinter dem Verschwender von Zuckerbroten kam ein Offizier mit der Peitsche daher. Der hielt für seine Kinder Strafen bereit. Der beherrschte so etwas wie ein System von Strafen. ein ganzes Register. Zu Anfang gab es Schelte und Wutausbruch - das war erträglich und ging wie der Donner vorbei. Dann kam das Ziehen, Drehen und Kneifen am Ohr, die Ohrfeige und der berühmte Katzenkopf. Es folgte die Verbannung aus dem Zimmer, danach das Fortgesperrtsein ins Kellerloch. Und weiter: die Kindsperson wurde ignoriert, durch strafendes Schweigen gedemütigt und beschämt. Es wurde zu Besorgungen mißbraucht, ins Bett verurteilt oder zum Kohleschleppen abkommandiert. Zum Schluß. als Mahnmal und Höhepunkt erfolgte die Strafe, die Strafe schlechthin, die exemplarische Bestrafung. Das war die Prügelstrafe. Die Prügel erfolgten gnadenlos und präzis, laut oder leise gezählt, und ohne Bewährung.
Erstmals im Alter von vier Jahren wurde mein Glauben an den Vater verletzt. [...] Zehn Tage lang, zu lang für jedes Gewissen, segnete mein Vater die ausgestreckten, vier Jahre alten Handflächen seines Kindes mit scharfem Stöckchen. Sieben Tatzen täglich auf jede Hand: macht hundertvierzig Tatzen und etwas mehr: es machte der Unschuld des Kindes ein Ende. Was immer im Paradies geschah, mit Adam, Eva, Lilith, Schlange und Apfel, das gerechte biblische Schlagwetter vor der Zeit, das Gebrüll des Allmächtigen und sein ausweisender Finger – ich weiß davon nichts. Es war mein Vater, der mich von dort vertrieb.


Gute Nacht!

Mittwoch, 25. Mai 2016

Des Abends Brauen sind eingesunken

von Sergej Jessenin

Des Abends Brauen sind eingesunken,
Fremde Pferde stehn unten vorm Haus.
Hab' ich gestern die Jugend vertrunken?
War die Liebe zu dir gestern aus?

Knarre doch nicht, du verspäteter Wagen!
Wie unser Leben so spurlos verfliegt!
Morgen ist es das Krankenhauslager,
Das dann vielleicht auf immer mich wiegt.

Morgen vielleicht, ein anderer wieder,
Geh' ich geheilt die Straße voran,
Höre die Blätter, des Regens Lieder -
Davon erblühen die Kräfte im Mann.

Dann vergeß ich die Nacht und die Lüge,
Alles, was quälend mich fast zerbricht.
Antlitz, liebendes! Trauteste Züge!
Dich alleine vergesse ich nicht.

Mag ich mir auch eine andre erwählen,
Will ich doch ihr, zu der ich entbrannt,
Auch von dir, Geliebte, erzählen,
Die ich einstmals Liebste genannt.

Wie unser Leben, das nie verflossen,
Hinfloß, erzähl ich ihr später bei Nacht ...
Du mein Kopf, voller Streiche und Possen,
Wozu hast du mich wieder gebracht?

Gute Nacht!

Freitag, 20. Mai 2016

Ruhm und Ehre

von Arthur Schopenhauer

Die Ehre hat einen negativen Charakter, welches sie vom Ruhm unterscheidet, der einen positiven Charakter hat; sie ist nämlich die Meinung nicht von besonderen Eigenschaften, die bei uns hinzukommen, sondern von der Regel nach zu erwartenden Eigenschaften, die uns nicht abgehen. Sie besagt nur, dass wir keine Ausnahme sind; während der Ruhm besagt, dass wir Ausnahmen sind. Ruhm muss erst erworben werden, und zwar dadurch dass man Eigenschaften zeigt, die andere derselben Art nicht haben, dadurch man also ausgezeichnet ist: wer des Ruhmes ermangelt, der hat ihn nicht verloren, sondern er hat ihn nicht erworben. Die Ehre hingegen versteht sich von selbst, und wer keine hat, der hat sie verloren und zwar verliert er sie durch Taten, und Einer kann sie haben, ohne dass man nachweisen kann, was er dafür getan hat: nur wird vorausgesetzt, dass er vorkommenden Falls dieses tun und jenes lassen wird, und es ist hinreichend, dass er hiervon bis jetzt nicht das Gegenteil bewiesen hat. Darum ist ihr Charakter negativ, welches sich auch darin zeigt, dass sie viel öfter beruht auf dem, was wir unterlassen, als auf dem was wir tun und mehr negative als positive Vorschriften erteilt. Ruhm ist dagegen das Positive und wird allein durch besondere, bestimmt gegebene Taten (oder Werke) erworben. Die Ehre betrifft also lauter Eigenschaften, die Jeder derselben Gattung haben soll, und die sich also von selbst verstehen: seine Ehre ist die allgemeine Meinung Anderer, dass sie ihm nicht abgehen, dass er also in dieser Hinsicht keine Ausnahme von der Regel macht.


Gute Nacht!

Montag, 2. Mai 2016

Unentrinnbar

von Albert Ehrenstein

Wer weiß, ob nicht
Leben Sterben ist,
Atem Erwürgung,
Sonne die Nacht?
Von den Eichen der Götter
Fallen die Früchte
Durch Schweine zum Kot,
Aus dem sich die Düfte
Der Rosen erheben
In entsetzlichem Kreislauf,
Leiche ist Keim,
Und Keim ist Pest.

Gute Nacht!
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