von Voltaire
Ein Bettler in der Umgebung von Madrid
bat würdevoll um Almosen. Ein Passant sagte zu ihm: "Schämen Sie sich
nicht, diesem schmachvollen Gewerbe nachzugehen, wo Sie doch arbeiten
können?" - "Mein Herr", erwiderte der Bettler, "ich bitte Sie um Geld
und nicht um Ratschläge." Dann wand er ihm den Rücken zu, seine
kastilische Würde wahrend.
Dieser Mann war ein stolzer Bettler. Seine
Eitelkeit wurde durch eine Kleinigkeit verletzt, er bettelte aus
Eigenliebe und duldete nicht, dass ein anderer ihm aus Eigenliebe
Vorwürfe machte.
Ein Missionar begegnete auf seiner Reise durch
Indien einem mit Ketten beladenen Fakir, der nackt wie ein Affe auf dem
Bauch lag und sich für die Sünden seiner indischen Landsleute peitschen
liess, die ihm ein paar kleine Münzen schenkten.
"Welche Selbstverleugnung!" sagte ein Zuschauer.
"Selbstverleugnung?"
entgegnete der Fakir. "Lassen sie sich sagen, dass ich mich auf dieser
Welt nur prügeln lasse, um es ihnen in der anderen heimzuzahlen, wenn sie das Pferd sind und ich der Reiter!"
Diejenigen,
die gesagt haben, die Eigenliebe sei die Grundlage all unseres Fühlens
und Handelns, haben also in Indien, in Spanien und auf der ganzen
bewohnbaren Erde durchaus recht gehabt. Wie man nicht schreibt, um den
Menschen zu beweisen, dass sie ein Gesicht haben, so braucht man ihnen
auch nicht zu beweisen, dass sie sich von Eigenliebe leiten lassen.
Diese
Eigenliebe dient unserer Selbsterhaltung. Insofern gleicht sie dem
Fortpflanzungsorgan: auch dieses ist unentbehrlich, ist uns lieb und
wert, bereitet uns Freude. Und wir müssen es verstecken!
Gute Nacht!
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