Sonntag, 17. Mai 2015

Eigenliebe

von Voltaire
Ein Bettler in der Umgebung von Madrid bat würdevoll um Almosen. Ein Passant sagte zu ihm: "Schämen Sie sich nicht, diesem schmachvollen Gewerbe nachzugehen, wo Sie doch arbeiten können?" - "Mein Herr", erwiderte der Bettler, "ich bitte Sie um Geld und nicht um Ratschläge." Dann wand er ihm den Rücken zu, seine kastilische Würde wahrend.
Dieser Mann war ein stolzer Bettler. Seine Eitelkeit wurde durch eine Kleinigkeit verletzt, er bettelte aus Eigenliebe und duldete nicht, dass ein anderer ihm aus Eigenliebe Vorwürfe machte.
Ein Missionar begegnete auf seiner Reise durch Indien einem mit Ketten beladenen Fakir, der nackt wie ein Affe auf dem Bauch lag und sich für die Sünden seiner indischen Landsleute peitschen liess, die ihm ein paar kleine Münzen schenkten.
"Welche Selbstverleugnung!" sagte ein Zuschauer.
"Selbstverleugnung?" entgegnete der Fakir. "Lassen sie sich sagen, dass ich mich auf dieser Welt nur prügeln lasse, um es ihnen in der anderen heimzuzahlen, wenn sie das Pferd sind und ich der Reiter!"
Diejenigen, die gesagt haben, die Eigenliebe sei die Grundlage all unseres Fühlens und Handelns, haben also in Indien, in Spanien und auf der ganzen bewohnbaren Erde durchaus recht gehabt. Wie man nicht schreibt, um den Menschen zu beweisen, dass sie ein Gesicht haben, so braucht man ihnen auch nicht zu beweisen, dass sie sich von Eigenliebe leiten lassen.
Diese Eigenliebe dient unserer Selbsterhaltung. Insofern gleicht sie dem Fortpflanzungsorgan: auch dieses ist unentbehrlich, ist uns lieb und wert, bereitet uns Freude. Und wir müssen es verstecken!


Gute Nacht!

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