von Raphael M. Bonelli
Schuldbewusstsein,
Schuldgefühle, Gewissensbisse und ein „schlechtes Gewissen“ sind an und
für sich Zeichen für psychische Gesundheit. Das klingt für den Laien
provokant, leuchtet aber sofort ein, wenn man psychotherapeutisch mit
Missbrauchstätern gearbeitet hat. Am Anfang der Therapie wird der
traurige Tatbestand in der Regel geleugnet, verharmlost und
uminterpretiert. Als Therapieerfolg werten muss man ja schon einen
zarten Schimmer von Unrechtsverständnis – und eben ein wachsendes
Schuldbewusstsein. Es geht nicht darum, dem Missbrauchstäter
Schuldgefühle einzupflanzen, es geht darum, die verdrängte Schuld ins
Bewusstsein zurückzuholen. Denn nur dieses Bewusstsein von Schuld macht
Reue und damit eine Verhaltensänderung möglich.
Schuldbewusstsein ist ein kreatives Potenzial: Es für denkbar und
möglich zu halten, etwas falsch gemacht zu haben, öffnet neue
Handlungshorizonte. Fehlendes Schuldbewusstsein bedeutet nicht etwa das
Fehlen von Schuld, sondern die Verdrängung der Schuld aus dem
Bewusstsein, die jetzt im Unterbewussten ein Eigenleben führt.
Verdrängte Schuld engt den Menschen ein und nimmt ihm
Handlungsspielraum.
[...] Ein "schlechtes Gewissen" ist die Erinnerung an eine eigene Handlung,
die im Nachhinein als unrichtig, schädlich, schlecht, ja böse beurteilt
wird. Auch das ist keine schwere Krankheit - und man kann es oft durch
eine Entschuldigung aus der Welt schaffen. Ein Killerargument im
menschlichen Zusammenleben lautet: "Du machst mir jetzt ein schlechtes
Gewissen." Das ist ein Paradoxon: Als ob ein schlechtes Gewissen schon
ein klarer Hinweis auf Unschuld wäre - und auf einen aggressiven
Übergriff des Partners. Wir laufen damit nur Gefahr, durch halbgebildete
Küchenpsychologie und Stammtischpädagogik uns gegenseitig das Leben zu
erschweren: Durch eine zunehmende Psychologisierung des Alltags werden
unter anderem psychoanalytische Hypothesen in banalisierter Form in
Umlauf gesetzt. Tatsächlich macht ein gesundes Schuldbewusstsein
überhaupt erst beziehungsfähig.
Gute Nacht!
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