Samstag, 30. März 2013

Aus dem humanistischen Credo

von Erich Fromm

Ich glaube, dass jeder Mensch die Menschheit repräsentiert. Wir unterscheiden uns in bezug auf unsere Intelligenz, unsere Gesundheit und unsere Begabung. Und trotzdem sind wir alle gleich: Wir alle sind Heilige und Sünder, Erwachsene und Kinder, und keiner steht über dem anderen oder ist sein Richter. Wir alle wurden mit Buddha erleuchtet und mit Christus gekreuzigt, und wir alle haben mit Dschingis Khan, mit Stalin und Hitler gemordet und geraubt.

Ich glaube, dass die eine Welt, die im Entstehen begriffen ist, nur dann Wirklichkeit werden kann, wenn ein neuer Mensch entsteht. Ein Mensch, der sich von den archaischen Bindungen an Blut und Boden freigemacht hat, der sich als Menschensohn, als Weltbürger fühlt und dessen Loyalität der ganzen Menschheit und dem Leben und nicht einem exklusiven Teil derselben gehört. Ein Mensch, der sein Vaterland liebt, weil er die Menschen liebt. Und dessen Urteilsfähigkeit nicht durch seine stammesmäßige Zugehörigkeit geprüft wird.

Ich glaube, dass das Wachstum des Menschen ein ständiger Geburtsprozess ist, ein ständig neues Erwachen. Gewöhnlich sind wir im Halbschlaf und wachen nur so weit auf, wie wir unseren Geschäften nachgehen müssen. Aber wir sind nicht wach genug, um dem Leben gerecht zu werden, worauf es doch allein ankommt. Die großen Führer der Menschheit sind Menschen, die andere aus ihrem Halbschlaf aufgeweckt haben. Die großen Feinde der Menschheit sind die, welche die anderen eingeschläfert haben, wobei es keine Rolle spielt, ob ihr Schlaftrunk die Verehrung Gottes oder die des goldenen Kalbes ist.


Gute Nacht!

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