Mittwoch, 27. März 2013

Über die Leidenschaft

 von François de La Rochefoucauld

Die Leidenschaft ist der einzige Redner, der immer überredet. Sie gleicht einer Kunst der Natur, deren Regeln unfehlbar sind; und der einfältigste Mensch, aus dem die Leidenschaft spricht, überzeugt mehr als der beredteste ohne Leidenschaft.


Den Leidenschaften eignet eine Ungerechtigkeit und ein Eigennutz, denen zu folgen gefährlich ist; man muß ihnen daher mißtrauen, selbst wenn sie noch so vernünftig erscheinen.
 

Das menschliche Herz ist eine unerschöpfliche Quelle von Leidenschaften, so dass fast stets das Versiegen der einen zum Ursprung einer anderen wird.
 

Leidenschaften erzeugen oft andere, die ihnen entgegengesetzt sind: so der Geiz Verschwendung und die Verschwendung Geiz. Man ist oft unnachgiebig aus Schwäche und tapfer aus Furcht.
 

Wie sehr man sich auch bemüht, seine Leidenschaften durch den Anschein von Frömmigkeit und Ehre zu verbergen, sie blicken stets durch diese Schleier hindurch.
 

Die Eifersucht ist in einem gewissen Sinne berechtigt und vernünftig, weil sie danach strebt, uns ein Gut zu bewahren, das uns wirklich oder unserer Meinung nach gehört. Aber der Neid ist eine Leidenschaft, die das Gut anderer nicht ertragen kann.
 

Man prahlt oft mit Leidenschaften, selbst mit verbrecherischen. Aber der Neid ist eine scheue und verschämte Leidenschaft, die man nie einzugestehen wagt.
 

Trennung läßt die schwächere Leidenschaft abnehmen und die große wachsen: wie der Wind die Kerzen auslöscht und das Feuer anfacht.
Bei keiner Leidenschaft herrscht die Selbstliebe so gewaltig wie bei der Liebe, und man ist stets mehr geneigt, die Ruhe der geliebten Person aufzuopfern, als die eigene zu verlieren.

 

Gute Nacht!

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