Samstag, 8. April 2017

Marginalien

von Edgar Allan Poe

Einen Blick in das Innere, in die Maschinerie jedweden Kunstwerks zu tun, zu sehen, wie da die Räder ineinander greifen, ist fraglos an sich schon ein großes Vergnügen, doch eines, dessen wir nur teilhaft werden können, sobald wir absehen von demjenigen Effekte, welchen der Künstler angestrebt hat. Und in der Tat, allzu oft begibt sich's, dass unser analytisches Reflektieren über Kunst eigentlich bloß dem Spiegelwerke im Tempel zu Smyrna gleicht, welches auch das holdeste Bild nur als ein verzerrtes zurückwarf.
Aufgefordert, in aller Kürze den Begriff Kunst zu definieren, könnte ich ihn nur bezeichnen als die Reproduktion dessen, was unsere Sinne durch den Schleier der Seele von der Natur wahrnehmen.
Die bloße Imitation der Natur, wie akkurat sie immer sein mag, berechtigt den Menschen noch lange nicht, sich den geheiligten Namen "Künstler" anzulegen, denn er war kein Künstler. Die Trauben des Zeuxis waren unkünstlerisch, man hätte sie denn mit eines Vogels Augen betrachtet, und nicht einmal der Vorhang des Parrhasios konnte über des Malers Mangel an Genie hinwegtäuschen.
Ich habe vom Schleier der Seele gesprochen. Dergleichen scheint in der Kunst unabdinglich zu sein. Wir sind jederzeit in der Lage, die Schönheit einer realen Landschaft zu verdoppeln, in dem wir bei ihrer Betrachtung die Augen halb schließen. Die nackten Sinne sehen bisweilen zu wenig, und zwar stets dann, wenn sie zu vieles sehen.


Gute Nacht!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Related Posts Plugin for WordPress, Blogger...

Gesamtzahl der Seitenaufrufe

68,806