Montag, 18. April 2016

Die Treue der Bücher

von Amos Oz

Einmal, ich war sieben oder acht Jahre alt, sagte mir Mutter, [...] es stimme zwar, dass Bücher sich im Laufe der Jahre verändern könnten, genauso wie Menschen sich mit der Zeit veränderten, aber der Unterschied liege darin, dass Menschen dich letztlich fast alle im Stich ließen, sobald sie keinen Nutzen oder keine Freude oder kein Interesse oder einfach keinen Gefallen mehr an dir fänden, während Bücher dich niemals im Leben im Stich ließen. Du würdest sie natürlich gelegentlich beiseite legen, manche sogar viele Jahre oder auch für immer. Aber sie, die Bücher, würden dir auch dann, auch wenn du ihnen untreu geworden warst, niemals endgültig den Rücken kehren: Ganz still und bescheiden würden sie auf dem Regal auf dich warten, sogar jahrzehntelang würden sie warten, ohne zu klagen. Bis du eines Nachts plötzlich eines von ihnen brauchtest, und sei es um drei Uhr früh, und sei es auch ein Buch, das du Jahr um Jahr vernachlässigt, ja fast aus dem Gedächtnis gelöscht hattest, es wird dich nicht enttäuschen, sondern vom Regal herunterkommen und in dem Moment bei dir sein, in dem du es brauchst. Es wird nicht mit dir abrechnen, keine Ausflüchte erfinden und sich nicht fragen, ob es sich für es lohnt, ob du es verdienst oder ob du noch zu ihm passt, sondern wird einfach sofort kommen, wenn du es bittest zu kommen.


Gute Nacht!

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