Freitag, 5. Februar 2016

Das Märchen der Kindheit

von Jacques Lusseyran

Meine Eltern waren für mich vollkommen. Mein Vater, der eine Hochschule für Physik und Chemie absolviert hatte und von Beruf Chemie-Ingenieur war, war ebenso intelligent wie gütig. Meine Mutter, die Physik und Biologie studiert hatte, war ganz Aufopferung und Verständnis. Beide waren mir gegenüber großzügig und aufmerksam. Aber wozu spreche ich davon? Der kleine Junge von damals wurde dessen nicht gewahr. Er gab seinen Eltern keine Qualitäten. Er dachte nicht einmal über sie nach. Er hatte es nicht nötig, über sie nachzudenken. Seine Eltern liebten ihn, und er liebte sie. Das war ein Geschenk des Himmels.
Meine Eltern — das war Schutz, Vertrauen, Wärme. Wenn ich an meine Kindheit denke, spüre ich noch heute das Gefühl der Wärme über mir, hinter mir und um mich, dieses wunderbare Gefühl, noch nicht auf eigene Rechnung zu leben, sondern sich ganz, mit Leib und Seele, auf andere zu stützen, welche einem die Last abnehmen.
Meine Eltern trugen mich auf Händen, und das ist wohl der Grund, warum ich in meiner ganzen Kindheit niemals den Boden berührte. Ich konnte weggehen, konnte zurückkommen; die Dinge hatten kein Gewicht und hafteten nicht an mir. Ich lief zwischen Gefahren und Schrecknissen hindurch, wie Licht durch einen Spiegel dringt. Das ist es, was ich als Glück meiner Kindheit bezeichne, diese magische Rüstung, die — ist sie einem erst einmal umgelegt — Schutz gewährt für das ganze Leben.


Gute Nacht!

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