Montag, 2. November 2015

Wege zum Verstehen

von Hannah Arendt

Allein die Einbildungskraft befähigt uns, Dinge in ihrer richtigen Perspektive zu sehen, das, was zu nahe ist, in eine gewisse Distanz zu rücken, sodass wir es ohne vorgefasste Meinung und Vorurteil sehen und verstehen können; sie ermöglicht es, Abgründe der Ferne zu überbrücken, bis wir alles, was zu weit von uns entfernt ist, so sehen und verstehen können, als ob es unsere eigene Angelegenheit wäre. Dieses "Distanzieren" bestimmter Dinge und das Überbrücken der Abgründe zu anderen ist Teil des Verstehens-Dialogs, für dessen Zwecke die direkte Erfahrung einen zu nahen Kontakt herstellt und das bloße Wissen künstliche Barrieren errichtet. 

Ohne diese Art von Einbildungskraft, die tatsächlich Verstehen ist, wären wir niemals in der Lage, uns in der Welt zu orientieren. Sie ist der einzige innere Kompass, den wir haben. Wir sind Zeitgenossen nur so weit, wie unser Verstehen reicht. Wenn wir auf dieser Erde zu Hause sein wollen, müssen wir sogar um den Preis des Zu-Hause-Seins-in-diesem-Jahrhundert versuchen, an dem unendlichen Dialog mit seinem Wesen teilzunehmen.

Gute Nacht!

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