Dienstag, 27. Januar 2015

Selbstlosigkeit

von Marc Aurel

Mancher, der jemandem eine Gefälligkeit erwiesen hat, ist sogleich bei der Hand, sie ihm in Rechnung zu stellen; ein anderer ist zwar dazu nicht sogleich bereit, denkt sich aber doch denselben in anderer Hinsicht als seinen Schuldner, und hat den geleisteten Dienst immer in Gedanken. Ein dritter dagegen weiß gewissermaßen nicht einmal, was er geleistet hat; er ist dem Weinstocke gleich, der Trauben trägt und nichts weiter will, zufrieden, daß er seine Frucht gegeben hat. Wie ein Pferd, das dahin rennt, ein Hund nach der Jagd, und eine Biene, die ihren Honig bereitet: so der Mensch, der Gutes getan hat; er posaunt es nicht aus, sondern schreitet zu einem andern guten Werke, wie der Weinstock sich berankt, um zu seiner Zeit wieder Trauben zu tragen. Man soll also denjenigen sich anschließen, die hierin gewissermaßen ohne Überlegung handeln? Allerdings. Aber, sprichst du, man muß doch wissen, was man tut, und einem geselligen Wesen ist es ja, wie's heißt, eigentümlich zu wissen, daß es zum Nutzen der Gesellschaft wirkt, und bei Gott! auch zu wollen, daß sein Mitgenosse das empfinde. Wohl wahr, was du da sagst; aber du verstehst den Sinn meiner Worte nicht recht und wirst deshalb zur Klasse derjenigen gehören, deren ich zuvor gedacht habe; denn sie lassen sich durch einen gewissen Schein von Vernunftmäßigkeit irreführen. Willst du hingegen den wahren Sinn meiner Äußerung erfassen, so fürchte nicht, darüber irgendeine gemeinnützige Handlung zu unterlassen.

Gute Nacht!

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