Mittwoch, 7. Mai 2014

Über die Dummheit

von André Glucksmann

Wie Sand am Meer gibt es sie, die Beispiele für Dummheit, täglich nehmen sie zu und bestärken uns in der Illusion, wir seien unbeteiligte Beobachter. Aber es gibt keine Dummheit, die nicht auf irgendeine Weise auch die unsere wäre, und so wird der Wunsch, sie von Grund auf zu verstehen, von der Sorge hintertrieben, sich vor ihr zu schützen. Wir versuchen Distanz zu halten, tun es aber nur jenem gleich, der vom Regen in die Traufe geriet. Auf diesem Terrain wären die ausgepichtesten Kenner der Materie Ignoranten geblieben, hätten sie sich nicht mit Leib und Seele in dubiose Kämpfe und Erniedrigungen gestürzt, aus denen sie um Haaresbreite nicht mehr herausgekommen wären. Es ist ein Akt der Vorsicht, die Dummheit dem Gegenüber anzulasten, und so hält der Franzose den Deutschen für dumm, der Linke den Rechten, und umgekehrt. Doch nur die kennen die Dummheit, die sich in Gefahr begeben, die mit ihr auf du und du sind, sich ihrem Geschwätz aussetzen, ihre Fadheit auskosten, die sich von ihr behexen lassen, die Geschmack an ihr finden.
So haben die härtesten Kritiker des Totalitarismus - Solschenizyn, Orwell, Suwarin - ihre Lichter am Feuer eines Stalinismus entzündet, in dem sie selbst einmal gebrannt haben. Wer nie betrunken war, kann das Drama der Trunksucht schwerlich begreifen. Solange ich glaube, dass Dummheit etwas Zufälliges ist, etwas, das nur den anderen zustößt, und mir nur dann, wenn ich unter Fremdeinfluss stehe, werde ich nie begreifen, wie subtil dieses Phänomen ist.
Wahrlich harte Tatsachen und Erfahrungen, aber sie aufzulisten bringt niemandem etwas ein, außer meinem eigenen Selbstbewußtsein. »Wie töricht er ist! Bin ich dumm!« Hinter diesen Feststellungen verbirgt sich ein vertrackter und versteckter Mechanismus.
Dummheit — das sind wir. Und umgekehrt. Aus diesem Kreis gibt es kein Entrinnen. Er ist teuflisch, aber er gab den Philosophen zu denken. Historische Bedeutung erhielt diese Feststellung, als Sokrates, Nummer 1 unter den Philosophen, auf den Spruch des Orakels: »Erkenne dich selbst«, die richtige Antwort fand. Mit seinem »Ich weiß, daß ich nichts weiß« fasste er eine neue Art der Selbstreflexion in Worte, undogmatisch und ohne den Ehrgeiz, mehr zu wissen als die anderen oder eine Krankheit heilen zu können, die ihm selbst gänzlich unbekannt war. »Erkenne dich selbst« fordert behutsam dazu auf: »Wisse, daß du nichts weißt«, und ergänzt: »Erkenne die Dummheit in dir«.
Dass wir versucht haben, ein Jahrhundert lang ohne Philosophie auszukommen, das heißt, ohne die Dummheit eines Blickes zu würdigen, hat uns jedenfalls nicht zu höherer Weisheit verholfen.
Schlichte Dummheit scheint es nicht zu geben, zumindest ist sie schwer zu finden. Die aufgesetzte Schlichtheit gleicht einer Maske unter vielen, in einer Pantomime, deren Mitwirkende allesamt verkleidet sind.
 
Gute Nacht!

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