von Stefan Zweig
»Wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird genommen, auch was er hatte.«
Dieses
Wort, obzwar 2000 Jahre alt, gilt unvermindert auch in der Gegenwart.
Wo Erfolg, da strömt Erfolg zu, wo Reichtum, da neues, frisches,
quellendes Gold und überdies noch die Anbetung vor dem Golde, der
freiwillige Enthusiasmus der Mitläufer und matten Seelen, denn Macht ist
die geheimnisvolle Materie der Welt. Magnetisch zieht sie den
einzelnen, suggestiv die Masse an, die selten fragt, wo diese Macht
gewonnen und wem sie weg genommen ist, sondern nur ihr Dasein als eine
Steigerung ihrer eigenen Existenz blind hingegen empfindet. Immer war es
die gefährlichste Eigenschaft der Völker, sich selbst freiwillig unter
das Joch zu stellen, sich begeistert in die Knechtschaft zu stürzen. Und
am liebsten unter eine des Erfolges.
Jeder Gegenwart gilt dies
grausame Wort, daß dem, der da hat, noch gegeben wird. Aber sonderbarer
als dies: auch die Geschichte, auch sie, die leidenschaftslos sein
sollte, klarsinnig und gerecht, auch sie hat die Neigung, nachträglich
dem recht zu geben, der im wirklichen Leben äußerlich recht behalten
hat; auch sie neigt sich, wie die meisten Menschen, zur Seite des
Erfolges, auch sie vergrößert noch nachträglich die Großen, die Sieger,
und verkleinert oder verschweigt die Besiegten. Auf die Berühmten häuft
sie zu ihrem tatsächlichen Ruhm noch die Legende, und jeder Große
erscheint in der Optik der Geschichte fast immer noch größer, als er
wirklich gewesen — den unzähligen Kleinen wird genommen, was dem Großen
zugetan wird.
Auf die Monarchen wird der Fleiß und der Heroismus
ihrer Untertanen gehäuft, immer nimmt die Geschichte aus der
Notwendigkeit der Verkürzung auf wenige Namen und Gestalten Unzähligen
ihre Tat und schiebt sie dem Stärkeren zu, denn: »Wer nicht hat, dem
wird genommen, was er hatte.« Darum tut es not, Geschichte nicht gläubig
zu lesen, sondern neugierig mißtrauisch, denn sie dient, die scheinbar
unbestechliche, doch der tiefen Neigung der Menschheit zur Legende, zum
Mythos — sie heroisiert bewußt oder unbewußt einige wenige Helden zur
Vollkommenheit und läßt die Helden des Alltags, die heroischen Naturen
des zweiten und dritten Ranges ins Dunkel fallen. Legende aber ist
immer, gerade durch das Verführerische, durch den Abglanz von
Vollkommenheit, der gefährlichste Feind der Wahrheit.
Gute Nacht!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen