Donnerstag, 19. Dezember 2013

Ist die Geschichte gerecht?

von Stefan Zweig

»Wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird genommen, auch was er hatte.«
Dieses Wort, obzwar 2000 Jahre alt, gilt unvermindert auch in der Gegenwart. Wo Erfolg, da strömt Erfolg zu, wo Reichtum, da neues, frisches, quellendes Gold und überdies noch die Anbetung vor dem Golde, der freiwillige Enthusiasmus der Mitläufer und matten Seelen, denn Macht ist die geheimnisvolle Materie der Welt. Magnetisch zieht sie den einzelnen, suggestiv die Masse an, die selten fragt, wo diese Macht gewonnen und wem sie weg genommen ist, sondern nur ihr Dasein als eine Steigerung ihrer eigenen Existenz blind hingegen empfindet. Immer war es die gefährlichste Eigenschaft der Völker, sich selbst freiwillig unter das Joch zu stellen, sich begeistert in die Knechtschaft zu stürzen. Und am liebsten unter eine des Erfolges.
Jeder Gegenwart gilt dies grausame Wort, daß dem, der da hat, noch gegeben wird. Aber sonderbarer als dies: auch die Geschichte, auch sie, die leidenschaftslos sein sollte, klarsinnig und gerecht, auch sie hat die Neigung, nachträglich dem recht zu geben, der im wirklichen Leben äußerlich recht behalten hat; auch sie neigt sich, wie die meisten Menschen, zur Seite des Erfolges, auch sie vergrößert noch nachträglich die Großen, die Sieger, und verkleinert oder verschweigt die Besiegten. Auf die Berühmten häuft sie zu ihrem tatsächlichen Ruhm noch die Legende, und jeder Große erscheint in der Optik der Geschichte fast immer noch größer, als er wirklich gewesen — den unzähligen Kleinen wird genommen, was dem Großen zugetan wird.
Auf die Monarchen wird der Fleiß und der Heroismus ihrer Untertanen gehäuft, immer nimmt die Geschichte aus der Notwendigkeit der Verkürzung auf wenige Namen und Gestalten Unzähligen ihre Tat und schiebt sie dem Stärkeren zu, denn: »Wer nicht hat, dem wird genommen, was er hatte.« Darum tut es not, Geschichte nicht gläubig zu lesen, sondern neugierig mißtrauisch, denn sie dient, die scheinbar unbestechliche, doch der tiefen Neigung der Menschheit zur Legende, zum Mythos — sie heroisiert bewußt oder unbewußt einige wenige Helden zur Vollkommenheit und läßt die Helden des Alltags, die heroischen Naturen des zweiten und dritten Ranges ins Dunkel fallen. Legende aber ist immer, gerade durch das Verführerische, durch den Abglanz von Vollkommenheit, der gefährlichste Feind der Wahrheit.


Gute Nacht!

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