Montag, 29. April 2019

Auf dem Balkon

von Marie Luise Kaschnitz 

Ich bekam einen Brief von einer Gleichaltrigen, darin stand, wir wohnen alle in der Todeszelle, niemand besucht uns, wir dürfen den Raum nicht verlassen,
nur warten, bis man uns abholt, und das Gerüst wird schon gezimmert, im Hof.
Ich begreife die Briefschreiberin nicht, ich weiß, dass ich sterben werde, aber wie in einer Todeszelle fühle ich mich nicht. Ich höre die wilden heftigen Geräusche des Lebens und spüre die Sonne und den Eisregen auf der Haut. Das Alter ist für mich kein Kerker, sondern ein Balkon, von dem man zugleich weiter und genauer sieht.
Von dem man unter Umständen, vom Blitz getroffen, oder von einem Schwindel überkommen, hinabstürzt, nicht weil es so dunkel und einsam ist, sondern weil die Sonne übermächtig scheint.



Gute Nacht!

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