von Marie Luise Kaschnitz
Ich bekam einen Brief von einer Gleichaltrigen, darin stand, wir wohnen
alle in der Todeszelle, niemand besucht uns, wir dürfen den Raum nicht
verlassen,
nur warten, bis man uns abholt, und das Gerüst wird schon gezimmert, im Hof.
Ich
begreife die Briefschreiberin nicht, ich weiß, dass ich sterben werde,
aber wie in einer Todeszelle fühle ich mich nicht. Ich höre die wilden
heftigen Geräusche des Lebens und spüre die Sonne und den Eisregen auf
der Haut. Das Alter ist für mich kein Kerker, sondern ein Balkon, von
dem man zugleich weiter und genauer sieht.
Von dem man unter
Umständen, vom Blitz getroffen, oder von einem Schwindel überkommen,
hinabstürzt, nicht weil es so dunkel und einsam ist, sondern weil die
Sonne übermächtig scheint.
Gute Nacht!
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