von Oscar Wilde
Eine der
Hauptursachen, die man für den seltsam ordinären Charakter fast aller
Literatur unserer Zeit anführen kann, ist unzweifelhaft der Verfall des
Lügens als Kunst, als Wissenschaft und als gesellige Unterhaltung. Die
alten Geschichtsschreiber gaben uns reizende Dichtung in der Form der
Tatsache; der moderne Romanschreiber beschert uns öde Tatsachen in der
Verkleidung der Dichtung. Das Blaubuch wird mehr und mehr sein Ideal für
das Verfahren und die Darstellung. Er hat sein widerwärtiges „document
humain“, seinen ärmlichen kleinen „coin de la création“, in den er mit
seinem Mikroskop hineinstiert. Man findet ihn in der Bibliothèque
Nationale oder im British Museum, wo er schamlos seinen Stoff studiert.
Ja, er hat noch nicht einmal den Mut zu andrer Leute Ideen, sondern
besteht darauf, alles aus dem Leben haben zu wollen, und so arbeitet er
zwischen Nachschlagewerken und persönlicher Erfahrung, nimmt seine
Gestalten aus dem Familienkreis oder von der Waschfrau, und hat eine
Menge nützliche Information erlangt, von der er sich nie, selbst in
seinen gedankenvollsten Augenblicken, völlig frei machen kann.
Der
Verlust, den unsere Literatur im allgemeinen durch dieses falsche Ideal
unserer Zeit erleidet, kann kaum überschätzt werden. Die Menschen reden
so obenhin von einem „geborenen Lügner“, gerade wie sie von einem
„geborenen Dichter“ sprechen. Aber in beiden Fällen haben sie unrecht.
Lügen und Dichten sind Künste – Künste, die, wie Plato sagt, nicht ohne
Beziehungen zueinander sind – und erfordern den eindringlichsten Fleiß,
die uneigennützigste Hingebung. In der Tat haben sie ihre Technik,
gerade wie die materielleren Künste der Malerei und Skulptur, ihre
subtilen Geheimnisse der Form und Farbengebung, ihre überlegten
künstlerischen Methoden. Wie man den Dichter an der Schönheit seines
Musikalischen erkennt, so wird der Lügner nach dem Reichtum seiner
rhythmischen Abstufungen beurteilt, und in beiden Fällen kann keinerlei
Inspiration des Augenblicks eine zufriedenstellende Leistung schaffen.
Hier wie überall muß die Übung der Vollendung vorhergehen. Aber in
unsern Tagen ist zwar die Gewohnheit des Dichtens nur allzu gemein
geworden und sollte, wenn möglich, zurückgedrängt werden, jedoch die
Gewohnheit des Lügens ist fast um alles Ansehen gekommen. Mancher
Jüngling tritt mit einer natürlichen Begabung für Übertreibung ins
Leben, die nur der Pflege und Ausbildung in einer geistig verwandten und
mitfühlenden Sphäre bedürfte, oder des Lernens an den besten
Vorbildern, um sich zu etwas wirklich Großem und Wunderbarem
auszuwachsen. Aber in der Regel bringt er es zu nichts. Er nimmt
entweder die liederliche Gewohnheit der Gewissenhaftigkeit an, oder
findet Gefallen an der Gesellschaft älterer und wohlunterrichteter
Leute. Beides wird seiner Phantasie in gleicher Weise verhängnisvoll,
wie es fürwahr der Phantasie eines jeden verhängnisvoll wäre, und binnen
kurzem zeigt er eine dekadente und krankhafte Gabe, die Wahrheit zu
sagen, fängt an, alles was in seiner Gegenwart behauptet wird, auf seine
Richtigkeit zu untersuchen, trägt kein Bedenken, Personen, die viel
jünger als er sind, zu widersprechen und endet oft damit, Romane zu
schreiben, die dem Leben so ähnlich sind, daß kein Mensch irgend an ihre
Wahrscheinlichkeit glauben kann. Was wir hier geben, ist kein
vereinzeltes Beispiel. Es ist lediglich ein Fall für viele; und wenn es
kein Mittel gibt, unserem entsetzlichen Tatsachenkultus Einhalt zu tun
oder ihn wenigstens zu mildern, so wird die Kunst veröden und die
Schönheit unser Land fliehen.
Gute Nacht!
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