Montag, 18. März 2019

Der Verfall des Lügens: Ein Protest

von Oscar Wilde

Eine der Hauptursachen, die man für den seltsam ordinären Charakter fast aller Literatur unserer Zeit anführen kann, ist unzweifelhaft der Verfall des Lügens als Kunst, als Wissenschaft und als gesellige Unterhaltung. Die alten Geschichtsschreiber gaben uns reizende Dichtung in der Form der Tatsache; der moderne Romanschreiber beschert uns öde Tatsachen in der Verkleidung der Dichtung. Das Blaubuch wird mehr und mehr sein Ideal für das Verfahren und die Darstellung. Er hat sein widerwärtiges „document humain“, seinen ärmlichen kleinen „coin de la création“, in den er mit seinem Mikroskop hineinstiert. Man findet ihn in der Bibliothèque Nationale oder im British Museum, wo er schamlos seinen Stoff studiert. Ja, er hat noch nicht einmal den Mut zu andrer Leute Ideen, sondern besteht darauf, alles aus dem Leben haben zu wollen, und so arbeitet er zwischen Nachschlagewerken und persönlicher Erfahrung, nimmt seine Gestalten aus dem Familienkreis oder von der Waschfrau, und hat eine Menge nützliche Information erlangt, von der er sich nie, selbst in seinen gedankenvollsten Augenblicken, völlig frei machen kann.
Der Verlust, den unsere Literatur im allgemeinen durch dieses falsche Ideal unserer Zeit erleidet, kann kaum überschätzt werden. Die Menschen reden so obenhin von einem „geborenen Lügner“, gerade wie sie von einem „geborenen Dichter“ sprechen. Aber in beiden Fällen haben sie unrecht. Lügen und Dichten sind Künste – Künste, die, wie Plato sagt, nicht ohne Beziehungen zueinander sind – und erfordern den eindringlichsten Fleiß, die uneigennützigste Hingebung. In der Tat haben sie ihre Technik, gerade wie die materielleren Künste der Malerei und Skulptur, ihre subtilen Geheimnisse der Form und Farbengebung, ihre überlegten künstlerischen Methoden. Wie man den Dichter an der Schönheit seines Musikalischen erkennt, so wird der Lügner nach dem Reichtum seiner rhythmischen Abstufungen beurteilt, und in beiden Fällen kann keinerlei Inspiration des Augenblicks eine zufriedenstellende Leistung schaffen. Hier wie überall muß die Übung der Vollendung vorhergehen. Aber in unsern Tagen ist zwar die Gewohnheit des Dichtens nur allzu gemein geworden und sollte, wenn möglich, zurückgedrängt werden, jedoch die Gewohnheit des Lügens ist fast um alles Ansehen gekommen. Mancher Jüngling tritt mit einer natürlichen Begabung für Übertreibung ins Leben, die nur der Pflege und Ausbildung in einer geistig verwandten und mitfühlenden Sphäre bedürfte, oder des Lernens an den besten Vorbildern, um sich zu etwas wirklich Großem und Wunderbarem auszuwachsen. Aber in der Regel bringt er es zu nichts. Er nimmt entweder die liederliche Gewohnheit der Gewissenhaftigkeit an, oder findet Gefallen an der Gesellschaft älterer und wohlunterrichteter Leute. Beides wird seiner Phantasie in gleicher Weise verhängnisvoll, wie es fürwahr der Phantasie eines jeden verhängnisvoll wäre, und binnen kurzem zeigt er eine dekadente und krankhafte Gabe, die Wahrheit zu sagen, fängt an, alles was in seiner Gegenwart behauptet wird, auf seine Richtigkeit zu untersuchen, trägt kein Bedenken, Personen, die viel jünger als er sind, zu widersprechen und endet oft damit, Romane zu schreiben, die dem Leben so ähnlich sind, daß kein Mensch irgend an ihre Wahrscheinlichkeit glauben kann. Was wir hier geben, ist kein vereinzeltes Beispiel. Es ist lediglich ein Fall für viele; und wenn es kein Mittel gibt, unserem entsetzlichen Tatsachenkultus Einhalt zu tun oder ihn wenigstens zu mildern, so wird die Kunst veröden und die Schönheit unser Land fliehen.


Gute Nacht!

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