von Max Frisch
Sonderbar ist die Stille, die einen
keuchenden Kletterer auf dem Gipfel empfängt, eine Stille, die nicht auf
ihn gewartet hat, die sich nicht um seine Ankunft kümmert und ihn auf
eine unheimliche Weise fast verlegen macht, jetzt, da er sein Streben
erfüllt hat und stolz sein möchte, eine Stille, die nichts von Ehrgeiz
weiß ...
Endlich schnallt er seinen Rucksack ab.
Wie am ersten
Tag, als Gott das Licht schuf so blendet das weiße Gebirge ringsum, das
sich in den hohen und blauen Himmel zackt, so klar und scharf und spitz
wie lauter Kristalle, Gipfel neben Gipfel, so weit man schaut, wie
Gottes steile und silberne Handschrift, hingeschrieben an den glühenden
Rand dieser Welt!
Später, als er sich Stirn und Hals und Arme
eingeschmiert hat und endlich seine Sonnensalbe wieder versorgt, denkt
er vielleicht auch einen Augenblick lang an die junge Fremde, die ihn
gestern im Bach gesehen hat; aber nur einen Augenblick lang —
Es ist,
als löse sie alles Denken auf diese Stille, die über der Welt ist; man
hört nur noch sein eignes Herz, das klopft, oder mitunter den Wind, der
in den Ohrmuscheln saust. Und wenn einmal eine schwarze Dohle um die
Felsen segelt und wieder mit heiserem Schrei entschwindet, immer bleibt
diese einsame Stille zurück, die um alles Leben ist und jeden Aufschrei
verschluckt, als sei er nie gewesen, diese namenlose Stille, die
vielleicht Gott oder das Nichts ist.
Gute Nacht!
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