Sonntag, 6. Januar 2019

Die Stille

von Max Frisch

Sonderbar ist die Stille, die einen keuchenden Kletterer auf dem Gipfel empfängt, eine Stille, die nicht auf ihn gewartet hat, die sich nicht um seine Ankunft kümmert und ihn auf eine unheimliche Weise fast verlegen macht, jetzt, da er sein Streben erfüllt hat und stolz sein möchte, eine Stille, die nichts von Ehrgeiz weiß ...
Endlich schnallt er seinen Rucksack ab.
Wie am ersten Tag, als Gott das Licht schuf so blendet das weiße Gebirge ringsum, das sich in den hohen und blauen Himmel zackt, so klar und scharf und spitz wie lauter Kristalle, Gipfel neben Gipfel, so weit man schaut, wie Gottes steile und silberne Handschrift, hingeschrieben an den glühenden Rand dieser Welt!
Später, als er sich Stirn und Hals und Arme eingeschmiert hat und endlich seine Sonnensalbe wieder versorgt, denkt er vielleicht auch einen Augenblick lang an die junge Fremde, die ihn gestern im Bach gesehen hat; aber nur einen Augenblick lang —
Es ist, als löse sie alles Denken auf diese Stille, die über der Welt ist; man hört nur noch sein eignes Herz, das klopft, oder mitunter den Wind, der in den Ohrmuscheln saust. Und wenn einmal eine schwarze Dohle um die Felsen segelt und wieder mit heiserem Schrei entschwindet, immer bleibt diese einsame Stille zurück, die um alles Leben ist und jeden Aufschrei verschluckt, als sei er nie gewesen, diese namenlose Stille, die vielleicht Gott oder das Nichts ist.


Gute Nacht!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Related Posts Plugin for WordPress, Blogger...

Gesamtzahl der Seitenaufrufe

68,806