von Ernst Robert Curtius
Ein gebildeter Mensch ist der, der ein gewisses Maß an Kenntnissen
besitzt. Dieses Mindestmaß wird bestimmt durch soziale Konvention und
wird darum mit den geschichtlichen Zeitabschnitten wechseln. Im heutigen
deutschen Bürgertum trifft man vielfach auf die etwas verschwommene
Ansicht, dass dieses Mindestmaß etwa mit dem zusammenfalle, was in der
Reifeprüfung der höheren Schulen verlangt wird. Ein gebildeter Mensch
ist man angeblich, wenn man sein Abitur gemacht hat oder wenn man auf
anderem Wege, etwa auf dem Wege über die Berufsschulung handwerklicher,
kaufmännischer oder sonstiger Art Universitätsreife erworben hat.
Andererseits aber wissen wir sehr wohl, dass man alle diese
Erkenntnisse, ja noch viel mehr haben und doch in tieferem Sinne ein
ungebildeter Mensch sein kann, ein Mensch, der die Teile in der Hand
hat, dem aber leider das geistige Band fehlt. Was vermissen wir an ihm?
Wir vermissen nicht ein bestimmtes Maß an Wissen und Kenntnissen,
sondern eine bestimmte Haltung der Persönlichkeit. Wir vermissen eine
gestalthafte Einheit seiner Lebensäußerungen: also dasjenige, was in den
großen Epochen der Kunst als Gesamtstil einer Zeit bezeichnet wird.
Daraus dürfen wir schließen, dass Bildung, wenn wir das Wort vom
einzelnen Menschen gebrauchen, eine bestimmte Gestaltqualität bedeutet;
dass sie in diesem Sinne von dem Besitz an Kenntnissen weitgehend
unabhängig ist, dass sie unmittelbar das Sein der Person betrifft.
Gute Nacht!
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