Mittwoch, 16. März 2016

Alter und Weisheit

von Michel de Montaigne

Wir nennen die Grämlichkeit unserer Launen und den Ekel an den gegenwärtigen Dingen Weisheit; im Grunde aber entsagen wir nicht so wohl den Lastern, als wechseln vielmehr damit, und nach meiner Meinung immer zu schlimmerem Übergange.
Außer einer dummen ärmlichen Ruhmredigkeit, einer langweiligen Geschwätzigkeit, einer ungeselligen unduldsamen Grämlichkeit, einer albernen Abergläubigkeit und einem lächerlichen Streben nach Reichtum, wenn wir ihn nicht mehr nutzen können, finde ich auch noch im Alter mehr Neid, Ungerechtigkeit und Schadenfreude.
Das Alter zieht noch mehr Runzeln auf unserem Verstand als auf unsere Stirne, und findet man wenige Seelen, und sehr selten, welchen man bei hohem Alter nicht das Sauer- und Kantigwerden anmerkte. Der Mensch geht mit gleichem Schritte auf sein Wachstum zu wie auf sein Abnehmen.
Wenn man die Weisheit des Sokrates beleuchtet und verschiedene Umstände bei seiner Verurteilung in Betracht zieht, so möchte ich fast glauben, dass letzter ihm gewissermaßen willkommen war und er sich mit Fleiß nicht nachdrücklicher verteidigte: er hatte schon beinahe an 70 Jahren die Last eines glanzvollen Lebens auf seinen Schultern getragen und die blendenden Strahlen seines gewöhnlichen Lichtes unterhalten.
Was für Verwandlungen sehe ich hierin bei vielen von meinen Bekannten täglich vorfallen? Es ist eine schwere Krankheit, die uns ganz natürlicher Weise und ganz unbemerkt beschleicht. Es gehört ein großer Vorrat von Studium dazu, und eine außerordentliche Vorsicht, um den Unvollkommenheiten auszuweichen, womit uns das Alter heimsucht, oder wenigstens ihren Fortschritt zu hemmen.
 
Gute Nacht!

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