Sonntag, 10. November 2013

Über Toleranz

von Albert Einstein

Wenn ich nun darüber nachdenke, was eigentlich Toleranz sei, fällt mir die drollige Definition ein, die der humorvolle Wilhelm Busch von der Enthaltsamkeit gegeben hat:

Enthaltsamkeit ist das Vergnügen 
An Dingen, welche wir nicht kriegen.

So möchte ich sagen: Toleranz ist das menschenfreundliche Verständnis für Eigenschaften, Auffassungen und Handlunge anderer Individuen, die der eigenen Gewohnheit, der eigenen Überzeugung und dem eigenen Geschmack fremd sind. Toleranz heiß also nicht Gleichgültigkeit gegen das Handeln und Fühlen des oder der andern; es muss auch Verständnis und Einfühlung dabei sein…
Das Große und Edle kommt von der einsamen Persönlichkeit, sei es ein Kunstwerk oder eine bedeutende schöpferische wissenschaftliche Leistung. Die europäische Kultur erlebte ihren wichtigsten Aufschwung aus dumpfem Verharren heraus, als die Renaissance dem Individuum Möglichkeiten zur freien Entfaltung bot.
Die wichtigste Art der Toleranz ist deshalb die der Gesellschaft und des Staates gegen das Individuum. Der Staat ist gewiss nötig, um dem Individuum die Sicherheit für seine Entwicklung zu geben, aber wenn er zur Hauptsache wird und der einzelne Mensch zu seinem willenlosen Werkzeug, dann gehen alle feineren Werte verloren. Wie der Fels erst verwittern muss, damit Bäume auf ihm wachsen können, und der Ackerboden erst aufgelockert werden muss, damit er seine Fruchtbarkeit entfalten kann, so sprießen auch aus der menschlichen Gesellschaft nur dann wertvolle Leistungen hervor, wenn sie genügend gelockert ist, um dem einzelnen freie Entfaltung seiner Fähigkeiten zu ermöglichen.

Gute Nacht!

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