Sonntag, 13. Oktober 2019

Am Heimweg

von Karl Stieler
Ich wand're heim durch's hohe Feld,
die Wolken zieh'n,
In tiefer Ruhe liegt die Welt.
Du bist dahin!

Das Abendläuten ist verhallt,
im Lindengrün,
Der letzte Vogel singt im Wald.
Du bist dahin!

Da fühl' ich's leise, wie ich krank
vor Sehnen bin;
Der Vogel schwieg, die Sonne sank.
Du bist dahin!
Gute Nacht!

Sonntag, 6. Oktober 2019

Glück in der Abenddämmerung

von Rainer Maria Rilke

Sie empfand, wie sehr sie alles um sich liebte, wie sehr das alles zu ihr gehörte, und daß dieses leise, freudige Werden mit seinem heimlichen Glück und seiner süßen Sehnsucht ihr Schicksal sei, nicht aber das, was Menschen in dunklem Drange wollten und irrten.
Auf dem Heimwege kamen ihr die lichten Schwärme fröhlicher Menschen entgegen, und da blieb sie lächelnd stehen und schaute über die helle, lebende Landschaft: Man konnte nicht glauben, daß alle diese lachenden Scharen wieder Raum finden würden in den engen Häusern drüben. Das macht: jeder von ihnen ist über sich selbst hinausgewachsen in den schimmernden Tag, den er kaum auf den Schultern spürt. Und der leuchtende Himmel wirft seinen goldenen Glanz so reich und rasch über die Menschen und Dinge, daß sie vergessen, ihre alltäglichen Schatten zu haben, und selber Licht sind in dem flimmernden Land.


Gute Nacht!
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