von Albert Schweitzer
Bei Descartes geht das Philosophieren von dem Satze aus: »Ich denke,
also bin ich.« Mit diesem armseligen, willkürlich gewählten Anfang kommt
es unrettbar in die Bahn des Abstrakten. Es findet den Zugang zur Ethik
nicht und bleibt in toter Welt- und Lebensanschauung gefangen. Wahre
Philosophie muß von der unmittelbarsten und umfassendsten Tatsache
des Bewußtseins ausgehen. Diese lautet: »Ich bin Leben, das leben will,
inmitten von Leben, das leben will.« Dies ist nicht ein ausgeklügelter
Satz. Tag für Tag, Stunde für Stunde wandle ich in ihm. In jedem
Augenblick der Besinnung steht er neu vor mir. Wie aus nie verdorrender
Wurzel schlägt fort und fort lebendige, auf alle Tatsachen des Seins
eingehende Welt- und Lebensanschauung aus ihm aus. Mystik ethischen Einswerdens mit dem Sein wächst aus ihm hervor.
Wie
in meinem Willen zum Leben Sehnsucht ist nach dem Weiterleben und nach
der geheimnisvollen Gehobenheit des Willens zum Leben, die man Lust
nennt, und Angst vor der Vernichtung und der geheimnisvollen
Beeinträchtigung des Willens zum Leben, die man Schmerz nennt: also auch
in dem Willen zum Leben um mich herum, ob er sich mir gegenüber äußern
kann oder ob "er stumm bleibt.
Ethik besteht also darin, daß ich die
Nötigung erlebe, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem
Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. Damit ist das denknotwendige
Grundprinzip des Sittlichen gegeben. Gut ist, Leben erhalten und Leben
fördern; böse ist, Leben vernichten und Leben hemmen.
Tatsächlich
läßt sich alles, was in der gewöhnlichen ethischen Bewertung des
Verhaltens der Menschen zueinander als gut gilt, zurückführen auf
materielle und geistige Erhaltung oder Förderung von Menschenleben und
auf das Bestreben, es auf seinen höchsten Wert zu bringen. Umgekehrt ist
alles, was in dem Verhalten der Menschen zueinander als böse gilt,
seinem letzten Wesen nach materielles oder geistiges Vernichten oder
Hemmen von Menschenleben und Versäumnis in dem Bestreben, es auf seinen
höchsten Wert zu bringen. Weit auseinanderliegende, untereinander
scheinbar gar nicht zusammenhängende Einzelbestimmungen von Gut und Böse
fügen sich wie zusammengehörige Stücke ineinander, sobald sie in dieser
allgemeinsten Bestimmung von Gut und Böse erfaßt und vertieft werden.
Gute Nacht!
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