Montag, 26. August 2013

Die Frage nach dem Wesen des Staates

von Octavio Paz

Die große Realität des 20. Jahrhunderts ist der Staat.
Sein Schatten bedeckt den ganzen Planeten. Wenn in der Welt ein Gespenst umgeht, ist dieses Gespenst nicht der Kommunismus, sondern die in der ganzen Welt entstandene neue Klasse: die Bürokratie.
Auch wenn der Begriff Bürokratie auf diese gesellschaftliche Gruppe vielleicht nur bedingt anwendbar ist. Die alte Bürokratie war keine Klasse, sondern eine Kaste von Funktionären, die das Staatsgeheimnis verband, während die heutige Bürokratie wirklich eine Klasse ist, gekennzeichnet durch das Monopol nicht nur in Dingen der Verwaltung, wie die frühere, sondern auch durch das Monopol im technischen Wissen.
Noch entscheidender ist: sie hat die Kontrolle über die Waffen, und in kommunistischen Ländern die Kontrolle über die Wirtschaft und über die Medien und die Werbung. Aus allen diesen Gründen, gleich wie wir die moderne Bürokratie definieren, ist die Frage nach dem Wesen des Staates die Hauptfrage unserer Zeit.
Leider ist das Interesse an diesem Thema bei den Studenten erst vor kurzem wieder erwacht. Zu allem Unglück besitzt keine der beiden herrschenden Ideologien, die liberale und die marxistische, genügende Elemente, die es uns ermöglichten, eine kohärente Antwort zu formulieren.
Die anarchistische Tradition ist ein wertvolles Präzedenz, doch muss man sie erneuern und ihre Analysen extendieren. Der Staat, den Proudhon und Bakunin kannten, ist nicht der totalitäre Staat Hitlers, Stalins und Maos.
So bleibt die Frage nach dem Wesen des Staates im zwanzigsten Jahrhundert unbeantwortet.
Als Urheber der Wunder, der Verbrechen, der Herrlichkeit und des Unheils der letzten 70 jahre war und ist der Staat, nicht das Proletariat  noch die Bourgeoisie der Held des Jahrhunderts. Seine Realität ist enorm, derart enorm, dass sie irreal erscheint. Der Staat ist überall, aber er hat kein Gesicht. Wir wissen weder, was noch wer er ist. Wie die Buddhisten der ersten Jahrhunderte, die den Erleuchteten nur durch seine Attribute darstellen konnten, erkennen wir den Staat nur an dem Ausmaß seiner Verheerungen. Er ist körperlos, keine leibhaftige Erscheinung, sondern Herrschaft. 
Er ist die Unperson!

Gute Nacht!

Sonntag, 18. August 2013

Wie der Wille alles vermag und wie alle Tugend am guten Willen liegt

von Meister Eckhart

Der Mensch soll sich durch gar nichts entmutigen lassen, solang er sich guten Willens weiß. Und soll sich nicht betrüben, wenn es ihm schwer wird, den Willen zur Tat zu vollbringen.
Ja, er soll sich dem Guten nicht mehr ferne glauben, wenn er den rechten guten Willen in sich findet. Es fehlt dir nichts mehr, wenn du echten rechten Willen hast. Weder Minne noch Demut noch sonst eine Tugend, sondern was du mit aller Kraft und ganzem Willen willst, das hast Du schon und kein Gott und keine Kreatur kann dir's rauben! Wenn dein Wille ein ganzer ist und Gottes wegen will und vor ihm gegenwärtig stehe. Kein "Ich wollte wohl", nein, das wäre Künftiges, sondern "Ich will", dass es jetzt so also sei!
Hab acht, wär ein Ding auch tausend Meilen weg und ich will es haben, so ist es noch eigentlicher mein Eigen, als was ich in meinem Schoß halte, ohne seiner zu begehren.
Es kommt alles auf den Willen an und da ist denn der gute nicht minder kräftig zum Guten als der böse zum Bösen. Das lass dir gesagt sein, wenn ich auch nie die böse Tat vollbringe und habe doch den Willen zum Bösen, so hab ich die Sünde, als hätte ich schon die Tat selbst vollbracht.
Ich kann mit einem einzigen gründlich bösen Wollen so schwere Sünde tun, als hätte ich alle Welt gemordet und hab doch keinen Finger dazu gerührt. Warum nun sollte solche Macht nicht auch der gute Wille haben? Ja! Noch viel, viel mehr.


Gute Nacht!

Freitag, 2. August 2013

Lampe und Spiegel

von Joachim Ringelnatz
 
"Sie faule, verbummelte Schlampe!"
sagte der Spiegel zur Lampe.
"Sie altes, schmieriges Scherbenstück!"
gab die Lampe dem Spiegel zurück.
Der Spiegel in seiner Erbitterung
bekam einen ganz gewaltigen Sprung.
Der zornigen Lampe verging die Puste:
Sie fauchte, rauchte, schwelte und ruste.
Das Stubenmädchen ließ beide in Ruhe
und doch - man schob ihr die Schuld in die Schuhe.

Gute Nacht!
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