Sonntag, 3. September 2023

Über meinen gestrigen Traum

von Joachim Ringelnatz

Wie kam ich gerade auf ein Gestirn?
Du sagst: Ich stöhnte träumend ganz laut.
Vielleicht steigt die Phantasie ins Hirn,
Wenn der Magen verdaut.

Man sollte kurz vorm Schlafengehen
Nichts essen. Auch war ich gestern bezecht.
Doch warum träume ich immer nur schlecht,
Nie gut. Das kann ich nicht verstehen.

Ob auf der Seite, ob auf dem Rücken
Oder auch auf dem Bauch – –
Immer nur Schlimmes. »Albdrücken.«
Aber Name ist Schall und Rauch.

Meist von der Schule und vom Militär – –
Als ob ich schuldbeladen wär – –
Und wenn ich aufwache, schwitze ich,
Und manchmal kniee ich oder sitze ich,
Du weißt ja, wie neulich!
O, es ist gräulich.

Warum man das überhaupt weitererzählt?
Hat doch niemand Vergnügen daran,
Weil man da frei heraus lügen kann. –
Aber so ein Traum quält.

Gestern hab ich noch anders geträumt:
Da waren etwa hundert Personen.
Die haben die Dachwohnung ausgeräumt,
Wo die Buchbinders wohnen.

Dann haben wir auf dem Dachsims getanzt.
Dann hast du mich, sagst du, aufgeweckt,
Und ich, sagst du, sagte noch träumend erschreckt:
»Ich habe ein Sternschnüppchen gepflanzt.«

Ich weiß nur noch: Ich war vom Dach
Plötzlich fort und bei dir und war wach.
Und du streicheltest mich wie ein Püppchen
Und fragtest mich – ach, so rührend war das –
Fragtest mich immer wieder: »Was
Hast du gepflanzt!? Ein Sternschnüppchen?«

 Gute Nacht!

Samstag, 5. März 2022

Frühlingsglaube

 von Ludwig Uhland 
Die linden Lüfte sind erwacht,
sie säuseln und wehen Tag und Nacht,
sie schaffen an allen Enden.
O frischer Duft, o neuer Klang!
Nun, armes Herze, sei nicht bang!
Nun muss sich alles, alles wenden.

Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
man weiß nicht, was noch werden mag,
das Blühen will nicht enden.
Es blüht das fernste, tiefste Tal:
nun, armes Herz, vergiss der Qual!
Nun muss sich alles, alles wenden!
Gute Nacht!

Freitag, 11. Februar 2022

Betrachtungen aus der Stille

von Yoshida Kenko 

Man kann sich auf keines der vielen Dinge in der Welt verlassen. Dumme Menschen, die sofort tiefes Vertrauen schenken, werden immer wieder enttäuscht und zornig.
Man kann sich nicht auf die Macht verlassen, die Starken gehen zuallererst zugrunde.
Man kann sich nicht auf den Reichtum verlassen, der ist im Nu verloren.
Man kann sich nicht auf seine Begabung verlassen, selbst Konfuzius fand zu seiner Zeit kein Verständnis.
Man kann sich nicht auf die Tugend verlassen, sogar Yan Hui geriet ins Unglück.
Man darf sich nicht auf die Huld seines Herren verlassen, er verhängt die Todesstrafe oft ganz unerwartet.
Man kann sich nicht auf seine Gefolgschaft verlassen, sie wendet einem schnell den Rücken und läuft zu einem anderen.
Auch auf das Wohlwollen ist kein Verlass, es schlägt mit Sicherheit um.
Man kann sich nicht auf Versprechungen verlassen, nur den Allerwenigsten ist zu trauen.
Wer sich so weder auf sich noch auf andere verlässt, ist glücklich, wenn alles gut geht und wenn nicht, so ist er wenigstens nicht enttäuscht.
Lässt man links und rechts ein wenig Raum, stößt man nicht an.
Lässt man vor und hinter sich weiten Raum, fährt man nicht fest.
Wo es eng ist, wird man erdrückt und wer sich schon bei kleinen Dingen ängstigt, gerät mit den Menschen in Streit und wird verletzt.
Geht einer aber großzügig und sanft vor, wird ihm kein Schaden angetan. Der Mensch ist der Geist von Himmel und Erde.
Himmel und Erde sind ohne Grenzen. Wie sollte es bei dem Menschen anders sein?
Wessen Herz weit und ohne Schranken ist, der wird weder von Freude noch von Zorn erfasst, noch gerät er durch die Außenwelt in Not!
 
Gute Nacht!

Sonntag, 24. Oktober 2021

Lebensgruß

von Heinrich Heine

Eine große Landstraß ist unsere Erd,
Wir Menschen sind Passagiere;
Man rennet und jaget, zu Fuß und zu Pferd,
Wie Läufer oder Kuriere.

Man fährt sich vorüber, man nicket, man grüßt
Mit dem Taschentuch aus der Karosse;
Man hätte sich gerne geherzt und geküßt,
Doch jagen von hinnen die Rosse.

Kaum trafen wir uns auf derselben Station,
Herzliebster Prinz Alexander,
Da bläst schon zur Abfahrt der Postillion,
Und bläst uns schon auseinander.
Gute Nacht!
 

Sonntag, 2. Mai 2021

Der Mensch

von Voltaire

Wenn man den Menschen in physischer Hinsicht kennenlernen will, muss man Werke über Anatomie und die Artikel von Venel in der Encyclopédie studieren oder, noch besser, an einem anatomischen Kolleg teilnehmen.
Wenn man den Menschen in moralischer Hinsicht kennenlernen will, muss man vor allem Lebenserfahrung sammeln und nachdenken. Sind nicht alle Bücher über Moral in den Worten Hiobs enthalten: "Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht."
Wir haben bereits gesehen, dass der Mensch im Durchschnitt nur etwa 22 Jahre zu leben hat, wenn man diejenigen, die an der Brust ihre Amme sterben, mit einbezieht so wie alle jene, die bis zu 100 Jahren die Reste eines elenden Lebens mit sich herumschleppen, dem sie geistig nicht mehr gewachsen sind.
Ein hübsches Gleichnis ist die alte Fabel vom ersten Menschen, der anfangs höchstens 20 Jahre leben sollte, was ein Durchschnittsalter von nur fünf Jahren ergeben hätte. Der Mensch war verzweifelt, er hatte bei sich eine Raupe, einen Schmetterling, einen Pfau, ein Pferd, einen Fuchs und einen Affen.
"Verlängere mein Leben", sagte er zu Jupiter, "ich bin mehr wert als alle diese Tiere hier! Die Gerechtigkeit verlangt, dass ich und meine kinder sehr lange leben, um über alle Tiere zu herrschen."
"Gern", sagte Jupiter, "aber ich kann nur eine bestimmte Zahl von Tagen unter alle diese Wesen verteilen, denen ich das Leben geschenkt habe, was ich dir geben kann, muss ich den anderen abziehen, denn du darfst dir nicht einbilden, dass ich allmächtig sei und mir keine Grenzen gesetzt wären, weil ich Jupiter bin. Auch ich habe meine Natur und mein Maß, ich will dir also gerne ein paar Jahre mehr bewilligen und sie diesen sechs Tieren, auf die du eifersüchtig bist, abziehen, aber unter der Bedingung, dass du nacheinander ihre Lebensformen annimmst."
Der Mensch soll zuerst eine Raupe sein und in seiner frühen Kindheit kriechen wie sie, mit 15 Jahren soll er anmutig sein wie ein Schmetterling und in seiner Jugend eitel wie ein Pfau, im Mannesalter soll er es ebenso schwer haben wie ein Pferd, in den 50er Jahren soll er listig sein wie ein Fuchs und im Alter hässlich und lächerlich wie ein Affe.
Und das ist im allgemeinen auch das Schicksal des Menschen!
 
Gute Nacht!
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